Mein Leiden
Mein Lebensfluss war und ist geformt durch körperliche und seelische Schmerzen mit mehr oder weniger hoch gehenden Wellen an unter Krankheiten, Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung, Ängsten leiden. Mein Leiden wurde und wird vom Mutter nicht wahr- und vom Vater nicht ernst genommen. So ignorierte ich mich darin über Jahrzehnte bis es so intensiv allgegenwärtig war (wie in den letzten beiden Jahren) und ist, dass es zum Zentrum der Wahrnehmung wurde. Mitunter auch aus dem Widerstand heraus die schmerzhafte Präsenz im Körper abgeschalten in Betäubung mündet(e). Dissoziieren ist die Gnade beim Sterben nicht dabei zu sein. Die Schmerzen, Ängste, Rage des gefolterten Kindes und der vergewaltigten Jugendlichen kommen mit den Triggern und verschaffen mir Raum für den Abgrund. Mit jedem Trigger wächst meine Liebe. Ich wurde zur Laborratte meines Nervensystems geleitet von einer Seele in der gemordet, gefoltert, verraten, beschämt, ignoriert, erniedrigt, unterworfen wird. Mit meinem Selbsthass zu diskutieren funktioniert nicht. Die Welt darf (m)ich hassen. Und so todesmutig wie ich bin schreibe ich nun zum Thema „Leiden“ ganz gleich wie viel Ablehnung ich damit hervorrufe. Mehr als die Worte meines Vaters „suhl dich nicht in deinem Leid, du hattest es doch gut“ bei gleichzeitiger fehlender Erinnerung wird mich nichts treffen.
Leiden und Schmerz entstehen, wenn gegen die Prinzipien des Lebens, des Vertrauens und der Liebe verstoßen wird. Schmerz ist kein angreifender Feind, sondern ein treuer Bote, der vom eigenen Körper ausgesandt wird, um auf eine Gefahr hinzuweisen. Verstehbare, auf eine Ursache zurückzuführende, Leiden sind ebenso wie vermeidbare erträglicher als unerklärliche, unwandelbare. Schmerzen können bekämpft werden, doch das Leid kann man nicht lindern, denn die Umstände, die dazu führen können nicht mithilfe eines Rezeptes oder Konzeptes geändert werden. Viele körperliche Leiden sind auf ungelöste innere Konflikte zurückzuführen und oft das Ergebnis eines Konfliktes zwischen den eigenen Bedürfnissen und der Realität. In einer ungerechten Welt sind innere Leiden nicht zu vermeiden und zutiefst menschlich. Je gewissenhafter, sensibler und intelligenter wir sind, umso größer ist das Risiko (viel) zu leiden. Ich möchte anmerken, dass es gesund und positiv ist, Leid zu empfinden, den dazu braucht man zwei der besten menschlichen Fähigkeiten: Sensibilität und Mitgefühl. Es ist zum Beispiel unmöglich zu lieben, ohne auch zu leiden.
Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage warum wir leiden. Zuallererst leiden wir, weil wir Menschen sind. Wir leiden auch, weil wir nicht immer sonderlich bewusst handeln. Genauso leiden wir, weil wir in Gemeinschaft leben und oft Opfer der Entscheidungen oder des Verhaltens anderer sind. Und schließlich leiden wir auch aus Solidarität und Mitgefühl im Angesicht des Leidens anderer Menschen. Wir leben alle in derselben verdorbenen Welt. Folglich bleibt die Notwendigkeit das Problem des Leidens über das eigene Leid hinaus zu ergründen.
Leid begegnet einem individuell. Der Schmerz ist persönlich, noch privater als die Gedanken und Gefühle, den die sind mitteilbar, der Schmerz aber nicht. Leid stellt einen geschlossenen Kreis dar, der von außen nicht zugänglich ist und von innen nicht veräußerbar. Die Einsamkeit ist einer der Verbündeten des Leidens, der am schwierigsten zu ertragen ist. Sich auszudrücken ist ein menschliches Grundbedürfnis. Beim Schmerz ist meist ein nicht wissen, wie wir das tun können und dürfen erlebbar. Die Sprache des Leidens ist das Schweigen. Ein wesentlicher Teil der Künste ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden menschliches Leid sichtbar zu machen. Viele der Bilder und Texte die im letzten Jahr aus mir heraus kamen zeugen davon. Das aktuelle Bild oben unter dem Titel „verletzende Verboten & verbotenes verletzt-sein“ subsumiert die verinnerlichten Erfahrungen.
Das einzige Mittel gegen Leiden ist sich ihm zu stellen, es auf sich zu nehmen und die Realität zu akzeptieren wie sie ist. Unser Schwachsein ist und bleibt ein Teil des menschlichen Zustandes. In schwierigen Momenten brauchen wir Hilfe. Hilfe auf uns, genauer unsere Schmerzen zu achten, gelassen zu werden wie wir sind und im unvermeidbaren Leiden Beistand zu erfahren. Nichts kann ein Leiden so lindern, wie das Bemühen damit zu sein und es zu begleiten. Es braucht Mut das Leiden bis zum Schluss auf sich zu nehmen. Und es braucht das Bewusstsein dafür, dass Leiden schmerzhaft, fallweise unausweichlich und mit unter lange andauernd sowie letztlich tödlich ist. Albert Schweizer braucht es auf den Punkt: „Das Leiden ist für die Menschheit ein furchtbarerer Tyrann als der Tod selbst.“
Die schwierige Frage „Warum existiert das Böse?“ geht Hand in Hand mit der Frage „Warum gibt es das Gute?“. Manche religiösen und spirituellen Richtungen sehen im Bösen die Abwesenheit des Guten. Sprich relative und mehrdeutige Konzepte. Womöglich nur böse Erscheinendes und Etappen auf dem Weg zum Guten. Diese Ansicht teile ich nach allen eigenen gemachten Erfahrenen nicht. Es gibt das Böse und es hat Lust an den Qualen und Leiden anderer. Christen meinen der „freie Wille“ sprich die gottgegebene Entscheidungsfreiheit beinhaltet das Risiko, dass Menschen „böse“ handeln. Das macht insofern Sinn, weil wir sonst weisungsgebundene, gehorsame Marionetten ohne Wahlmöglichkeiten wären. Daraus folgt, dass, wenn alles Gottes Wille ist, auch das Leid teil seines Planes für die Menschen ist. Bekannt sind auch die sogenannten geistigen Kriege in denen das Böse, einem Eindringlich gleich, als großer Feind Gottes bekämpft wird und somit nicht sein Werkzeug ist. Die Bibel schreibt davon, dass Gott Liebe ist und das bestimmte Formen der Korrektur mit der Liebe Gottes vereinbar sind. Wenn Gott die Liebe ist, heißt es hat er Interesse daran uns zu erziehen, zu bestrafen und zu züchtigen. Mir wird dabei übel, weil es eine Sache ist zu korrigieren, womöglich auch zu strafen, aber eine ganz andere zu missbrauchen wie es in diesen Kontexten (wie selbst erfahren) geschieht. Religiöse und spirituelle Überzeugungen offenbarten mir sowohl das Beste als auch das Schlechteste.
Ein Gott, der im Angesicht des menschlichen Leides gleichgültig bliebe, wäre ein Monster. Für mich gibt es keine verheerendere Erklärung für das leid als jene, die es auf eine Strafe Gottes zurückführen. Es lässt in tiefe Verzweiflung und Einsamkeit versinken die Gründe für ein Leiden dem Leidenden in die Schuhe zu schieben. Man darf die Opfer nicht mit den Schuldigen verwechseln. Oft sind es nicht dieselben! Da bleibt viel mir unerklärliches in den Dimensionen des Bösen. Es hat reichlich über das Menschliche hinausgehendes, viel Unmenschliches und Übermenschliches. Die Herausforderung des Leidens ist nicht im Suchen nach Antworten zu verenden, sondern auch leidend am Leben zu bleiben, trotz allem was wir nicht wissen. Letztlich geht es nicht darum das Leid zu erklären oder zu verhindern, sondern darum es mit bewusster Präsenz zu füllen. Wenn wir mit uns selbst und dem Leiden ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass selbst unsere besten Erklärungen nicht wirklich überzeugen. Es gibt zu viele wichtige Umstände, die wir nicht kennen. Auch weil Leid neben der Unzulänglichkeit auch der Freiheit und Fülle der Liebe entspringen kann. Das erlösende Moment ist dabei nicht das Leiden, sondern das Lieben.
In Wahrheit sterben am Ende alle Menschen aufgrund des einen oder anderen Übels. Es gehört viel mehr Charakterstärke dazu, eine lange Krankheit zu ertragen als gesund zu sein. Manchmal stellt ein Leiden den Charakter auf den Prüfstand, es zerstört oder veredelt. Im erbarmungslosen Schmelztiegel des Leidens entwickeln wir, wie in keiner anderen Lebenssituation, unsere Fähigkeit, uns widrigen Situationen zu stellen und unseren Charakter formen zu lassen. Es gibt kein Heilmittel für eine Krankheit mit der man sich gut versteht. Abhängigkeit und Selbstzerstörung „befreien“ davon sich ungelösten Problemen zu stellen. Das Leiden an sich ist immer etwas Schlechtes, selbst wenn es in manchen Fällen als ein Vorrecht oder Segen erlebt wird. Leiden um des Leidens willen hat keinen besonderen Wert. Die Schmerzen und die Angst vor noch mehr Leiden lähmen. Die Spannung zwischen der Notwendigkeit sich der Realität zu stellen und der Unfähigkeit sie zu ertragen quält. Im niedergedrückten Leiden unter widrigsten Umständen lebend ermöglicht maximal – aus Verantwortung dem Leben(den) gegenüber – zu Überleben. Um weiter zu leben braucht es die Hilfe anderer Menschen! Wer leidet braucht vor allem die Möglichkeit, den Schmerz zum Ausdruck zu bringen, UND jemanden, der ihm den Raum hält, zuhört ohne zu urteilen oder eine Predigt zu halten.
Wenn du heilen kannst, heile; wenn du nicht heilen kannst, lindere; und wenn du nicht lindern kannst, tröste (mich). Die unmittelbare Linderung in einem Leiden erfahre ich durch bedingungslosen Halt und wohlwollende Nähe anderer fühlender Menschen. Wenn ich mich begleitet fühle, verhindert es zwar nicht den Schmerz, aber es hilft, die Einsamkeit und das Gefühl des Verlassenseins zu überwinden. Das größte Leid ist, alleine zu sein, nicht geliebt zu werden, niemanden zu haben. Das schönste Geschenk ist menschliche Nähe, wenn sie von Herzen kommt. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass der schlimmste Schaden, der einem Menschen zugefügt werden kann, der Liebesentzug ist.
Zum Schluss der mir meist gegenwärtige „Wunsch zu sterben“ den ich kaum in Kontakt bringen kann. Hier und jetzt ein schreibender Versuch meinen letzten Strohhalm, die Entscheidung in der Hand zu haben, nicht mehr weiterleben zu wollen. Meine Finger klammern sich daran in meinem Kampf(unfähig) mit dem Leiden. Der Wunsch, sterben zu wollen, kommt, wenn das Leben aufgrund des andauernden Leidens unerträglich, unüberwindlich zur unerbittlichen Qual geworden ist. Am Ende ohne die nötige Kraft zu kämpfen, ohne Sinn der eigenen Existenz und ohne Willen so weiterzuleben wie es die Realität ist. Sprich wenn ich endlich nicht noch länger leiden möchte, möchte ich das Recht sterben zu dürfen haben. Wenn ich vom Leiden müde geworden bin, stelle ich mir den Ruhezustand des Todes, mit dem ich die Schmerzen und Probleme zurücklassen kann, als Erleichterung vor. Der Gedanke, dass Gott seine Geschöpfe auf ewig quält, ist mit der Vorstellung eines gerechten und guten Gottes nicht vereinbar. Wenn es einen Gott gibt, der nur unser Bestes will und nicht unser Leiden, kann dies nicht im Gegensatz zu Gottes Willen sein. Den letzten Schritt möchte ich Sterbende bewusst machen, doch alle vorletzten bitte gemeinsam gehen.
Die letzten Worte kommen lyrisch auch weil mir rückgemeldet wurde, die „Gedichte“ sind noch am ehesten erträglich im von mir zu Lesenden:
Sitting at the grave
waiting for life to be
embracing the dark
these are the days
I just want to escape
from my faith.